Zertifikat Babyfreundlich – was heißt das?

Zertifikat "Babyfreundlich"

Dr. Simeon Korth Geburt

Experteninterview:

Interview aus der Ausgabe 02-2021 des Familienmagazins „Bergischen Mama & Papa“

Dr. med. Simeon Korth
Chefarzt der Frauenklinik-GFO
Kliniken Rhein-Berg

Die WHO/UNICEF-Initiative Babyfreundlich ist ein Zertifizierungssystem von Einrichtungen der Geburtshilfe und Kinderheilkunde mit dem Ziel und Zweck in den Einrichtungen eine hohe Betreuungsqualität nach internationalen Standards von WHO und UNICEF zu bestätigen und damit die Bindung zwischen Eltern und Kind, die Entwicklung der Kinder sowie das Stillen zu fördern.

1. Das VPH zählt zu den größten und beliebtesten Geburtskliniken in NRW. Sie gelten als Vorreiter für natürliche Geburten und führen das Zertifikat „Babyfreundlich“. Wie ist es dazu gekommen und was steckt hinter diesem Zertifikat?

Unsere Klinik ist seit 1997 als eine der ersten Kliniken in Deutschland ausgezeichnet als „Babyfreundliche Geburtsklinik“ nach den Kriterien der WHO/Unicef. Wir haben uns schon immer gefragt: Was brauchen die Frauen unter und nach der Geburt, was würde „Frau“ tun, wenn man sie intuitiv handeln ließe.
Geburt bedeutet nicht nur den unmittelbaren Akt des Gebärens, sondern bedeutet eigentlich „Familienwerdung“. Nach der Geburt nimmt die Mutter instinktiv eigenhändig ihr Kind auf und an die Brust (Erkennen, Annehmen) und stellt Körperkontakt (Bindung) her. Als „Babyfreundlich“ ausgezeichnete Geburtsklinik fördern wir nicht nur das Stillen als zweifellos beste Form der Ernährung des Neugeborenen, sondern insbesondere den frühen Mutter-Vater-Kind-Körperkontakt zum Gelingen eines guten Starts in das Leben. Voll gestillte Säuglinge zeigen eindeutig eine bessere Entwicklung, weniger häufig Erkrankungen wie Adipositas, Diabetes und vor allem weniger häufig allergisch bedingte Erkrankungen. Durch den frühen innigen Körperkontakt erfährt das Neugeborene Geborgenheit und es zeigt sich eine bessere Sozialisierung im späteren Leben sowie häufiger ein intaktes Familienleben. 

Das Zertifikat beinhaltet die ausführliche Schulung aller Mitarbeiter von der jüngsten Schülerin bis zum Chefarzt in der Stillhilfe und -Begleitung.
Schon vorgeburtlich werden die werdenden Eltern in Rahmen der Geburtsvorbereitungskurse der Elternschule über Bedeutung und Vorteile des Stillens aufgeklärt und auf unsere besondere Art der Geburtsbegleitung vorbereitet. Nach der Geburt im Kreißsaal erfolgt das unmittelbare Anlegen und Herstellung von Körperkontakt (,,Bonding“), sowohl nach der Geburt auf natürlichem Wege als auch bei einer evtl. Kaiserschnittgeburt. Das „Bonding“ wird fortgeführt auf der Wochenbettstation durch 24-Stundenrooming -In und lückenlosen Körperkontakt im Mutter- Kind-Zimmer oder idealerweise im Familienzimmer unter Einbeziehung des Vaters.

2. Vor 20 Jahren fanden gerade einmal halb so viele Geburten im OP statt wie heute. Was sind die Gründe für diese Entwicklung und wie bewerten Sie diese?

Die Gründe für die Zunahme der Kaiserschnittrate in den westlichen Ländern sind vielschichtig. Hier spielen zum einen sicher gesell-schaftliche Gründe eine Rolle. Die soziokulturellen Bedingungen einer Gesellschaft erfordern auch immer ihre eigene Form der Geburtshilfe. So ist das Bedürfnis nach Sicherheit, aber insbesondere nach Plan-barkeit von Ereignissen höher. Auch hat sich das Körperverständnis verändert, teilweise ist auch das Vertrauen in die eigene Kompetenz zu gebären verloren gegangen. Die medizinische Entwicklung hin zu einer „Apparatemedizin“ hat Vorteile, aber auch Nachteile. So hat sich auch die ärztliche Ausbildung verändert, vielfach ist die für eine hohe Anzahl an Entbindungen auf natürlichem Weg notwendige große praktische Erfahrung verloren gegangen. Auch die höhere Bereitschaft zu juristischen Klagen und damit verbundene Angst vor juristischen Konsequenzen spielt eine Rolle.
Hier darf ich darauf hinweisen, dass in unserer Klinik die Kaiserschnittrate seit fast 20 Jahren konstant ist und gut 10% unter dem Landesdurchschnitt in NRW liegt. Dazu bei trägt die große Fachkompetenz und langjährige Erfahrung der Hebammen und ärztlichen Geburtshelfer bei über 2100 Geburten pro Jahr, die Ausbildung der Hebammen in der hauseigenen Hebammenschule, die hebammenzentrierte Geburtsbetreuung – insbesondere nach Umstellung auf ein Hebammen-Dienst-Belegsystem mit hohem Betreuungsschlüssel – und die Begleitung von Geburten aus Beckenendlage und von Zwillingsgeburten auf natürlichem Weg.
Dies und die Stärkung der Gebärenden in ihrer eigenen Kompetenz ermöglicht eine niedrige Kaiserschnittrate.

3. Viele Schwangere wünschen sich die sog. „Selbstbestimmte Geburt“. Für den Notfall soll jedoch im Hintergrund alles bereit sein. Ermöglichen Sie solche Geburten im VPH, und wann ist der Zeitpunkt gekommen, da eine Selbstbestimmte Geburt nicht mehr möglich ist?

Wir dürfen wohl mit Recht sagen, dass unsere Geburtsklinik als Vorreiter für viele Entwicklungen in der geburtshilflichen Betreuung in Deutschland angesehen werden kann. Die Zahl der Entbindungen ist von ca. 300 im Jahr 1980 kontinuierlich auf über 2100 im letzten Jahr gestiegen. Über viele Jahre fand im VPH auf interdisziplinäre Weise eine Umgestaltung und Entwicklung der Geburtshilfe statt. Das Konzept „Familie werden und Bindung“ rückte in den Mittelpunkt der Geburts-hilfe. Das Ziel besteht darin, den Frauen eine selbstbestimmte, natürliche Geburtshilfe anzubieten. Frauen können ihre Gebärposition frei wählen und werden in ihren eigenen Kompetenzen gestärkt, so dass sie sich nicht „ausgeliefert“ fühlen müssen. Der Partner ist im Kreißsaal willkomen und wird in das gesamte Ereignis der Geburt mit einbezogen.
Das Prinzip besteht darin, die Einheit Mutter-Vater-Kind nicht voneinander zu trennen, ,,Bonding“ wird zur Selbstverständlichkeit. Besonders die Farbgebung des Kreißsaals trägt zur Geborgenheit bei, breite Entbindungsbetten mit der Möglichkeit, die Gebärposition frei zu wählen, stehen bereit, die aufrechten Gebärpositionen werden bevorzugt.
Die Entbindung in der Gebärwanne (,,Wassergeburt“) nimmt in Bensberg ihren Ursprung, der „Sanfte Kaiserschnitt“ und die „Bensberger Kaiserschnittgeburt mit Blickkontakt“ haben sich etabliert. Im großen Umkreis gelten wir als Spezialklinik für die Entbindung aus Beckenendlage auf natürlichem Weg. Zusammen mit der Universität Osnabrück fördern wir das Projekt „Natürliche Geburt“. Das Besondere unserer Geburtshilfe wird seit ERZIEHEN UND FÖRDERN | Bergische Mama und Papa 21 1989 durch unsere am Haus etablierte Hebammenschule an viele Berufsanfängerinnen weitergegeben. In Zukunft wird die Ausbildung in Kooperation mit der Hochschule Köln
und Studierenden weitergeführt.
Unsere hebammenzentrierte Geburtsbetreuung im Kreißsaal fördert gerade die ,,Selbstbestimmte Geburt“ und auch „Friedliche Geburt“. Von den werdenden Müttern vorbereitete „Wünsche/Pläne für die Geburt“ werden nicht nur akzeptiert und unterstützt, sondern gehören praktisch zur alltäglichen Selbstverständlichkeit.
Das zusätzliche Angebot im „Bensberger Geburtsraum“, ausschließlich hebammenbetreut wie bei einer Hausgeburt zu gebären, stellt eine zusätzliche Möglichkeit dar. Die Grenzen der Selbstbestimmung sind immer dann gekommen, wenn die Gesundheit von Mutter und Kind in Gefahr gerät und ein medizinisches Eingreifen notwendig erscheint.
Aber auch in solchen Situationen wird die werdende Mutter mitgenommen in der Entscheidung, in dem wir durch ausführliche Erklärung und Aufklärung die Transparenz für das notwendige Handeln schaffen.

4. Was sagen Sie zu dem immer wieder zu hörenden Vorwurf, dass Kaiserschnitte als finanziell lohnendere Geburtsform in Kliniken bevorzugt werden?

Tatsächlich gehört die Betreuung der Geburt auf natürlichem Wege für ein Krankenhausunternehmen nicht zu den sehr ertragreichen Fällen. Das haben die Gesundheitspolitik und Kostenträger in Deutschland durch entsprechend niedrige sog. Fallpauschalen zu verantworten. Schließlich ist für die Betreuung einer Geburt ein erheblicher personeller und apparativer Aufwand mit Rund-um-die- Uhr-Bereitschaft von Hebammen und Ärzten zu gewährleisten.
Wie die Kliniken sich hier allgemein aufstellen, vermag ich nicht zu beurteilen. Für unsere Klinik gilt: Der beste Kaiserschnitt ist der, der nicht gemacht werden muss. Das beweist auch unsere seit 20 Jahren konstant niedrige Kaiserschnittrate, weit unter dem Landesdurchschnitt in NRW. 

Die Entscheidung für oder gegen einen Kaiserschnitt aus wirtschaftlichen Erwägungen kommt in unserer Klinik nicht vor.